Montag, 29. Mai 2017

Du bringst deine Stadt um, wenn du online kaufst - oder?





Da mir die zweite Antwort auf ein Posting in der Gruppe „Du weißt, du bist Ruppiner wenn...“ (klick mich falls du bei Facebook bist, ich bin ein Link) zu lang geworden ist, setze ich sie hier auf die Stadt-Ratte. Es ist eine Antwort auf eines der „Teil mich“-Bildchen, nämlich auf das hier: 



Quelle: Facebook
In der ersten Antwort habe ich geschrieben, warum ich viele Dinge online bestelle, zum Teil eben auch bestellen muss. Hauptgrund: Es gibt sie hier schlichtweg nicht. 



In der zweiten Antwort, nämlich der jetzt folgenden, würde ich gerne mal aufzeigen, wie schon vor Amazon und Co sich eine Innenstadt gewandelt hat, welche Läden über den Deister gegangen sind und warum ich das auch ganz persönlich mitbekommen habe. 


Ich komme aus Oldenburg. Ein anderer Oldenburger, der hier schon etwas länger wohnt als ich, hat mir mal gesagt: „Neuruppin, das ist wie Oldenburg vor 30 Jahren!“. Irgendwie hat er recht. Vor 30 Jahren war ich in der Stadt grade irgendwie mit meiner Ausbildung in der dortigen Stadtverwaltung fertig. Ich mochte die Stadt total, es ist eine Großstadt mit Kleinstadtcharakter gewesen und viele kleine und größere Läden bestimmten das Stadtbild und es hat unglaublich viel Freude gemacht, dort zu bummeln und einzukaufen. Es gab Spannhake – einen Bastelladen mit großer Auswahl, der ein Gässchen weiter in einem alten Haus ein Atelier hatte und wo es jeden Tag Angebote gab, was man dort machen konnte. Als ich Jugendliche war, habe ich dort immer, wenn wir in die Stadt gefahren sind, die Zeit verbracht und irgendetwas gelernt. Das war super. Es gab einen kleinen Laden mit unglaublich viel Messingkram und vielen, vielen Kleinigkeiten, er war nicht groß, aber es war immer etwas dort zu finden – und so ging es immer weiter. Zu der Zeit steckten die Computer noch in den Kinderschuhen. Auf der Arbeit musste ich mit elektrischen Schreibmaschinen arbeiten, das war ziemlich grässlich – aber die 3 Monate im TVS (Textverarbeitungssekretariat) mit den ersten Computern, das war einfach unglaublich toll. Das, was ich damals als Beruf gelernt habe, ist mittlerweile ausgestorben: Bürogehilfin. War auch doof, weil mit Bürofachangestellte, wie es damals hieß, wäre ich irgendwie glücklicher geworden. Das hätte mir nämlich Steno und Mindestanschläge pro Minute erspart.


Internet gab es noch gar nicht. Mein damaliger Freund hat in der Güterverkehrsabteilung der DB gearbeitet, da gab es Computer mit Floppys, die waren so groß wie DIN A 5 Blöcke. Als wir wenig später den ersten hatten, mussten wir vor jedem Start 7 Floppys nach und nach einlegen, damit das Betriebssystem (MS-DOS) überhaupt starten konnte. Aber es war voll faszinierend.


Dann entstand das zweite, viel größere Einkaufszentrum am Stadtrand. Zum Teil mit Läden, die vorher irgendwie in der Stadt waren – und weil man in der Stadt irgendwie „mithalten wollte“ war es wie der Startschuss dafür, dass aus einer vielfältigen Innenstadt mit Character mehr und mehr so etwas wie eine Mumie wurde. Die Investoren fielen ein und da, wo früher Altstadthäuser die Straße säumten, entstanden große, „moderne“ Betonklötze. Klar, das war erst alles irgendwie ganz toll – aber damit starben die kleinen inhabergeführten Läden. Man witterte das große Geld, der Zeitgeist wandelte sich – und wenn man seinen Laden für viel Geld vermieten kann – warum soll man sich dann noch die Mühe machen, selbst jeden Tag bis zum Umfallen Kunden zu bedienen? So verschwanden nach und nach Reisebüro Pekol, der kleine Trödelladen, Spannhake schrumpfte ganz massiv, es verschwanden Modeläden, der Laden von Eisbein, es verschwand Hertie, Horten wurde zu Galeria Kaufhof, es verschwanden kleine Gemüseläden, der tolle Spieleladen und so weiter. Internet war für viele Menschen da noch ein totales Fremdwort.


Es kamen große Ketten: Bonita, New Yorker, H & M, Pimkies und wie sie alle heißen. Es kamen Wohlfahrts Buchladen, Thalia und verdrängten kleine örtliche Händler – und mittlerweile besteht gefühlt die halbe Stadt aus Handyläden. Läden wurden geöffnet – und geschlossen. In den leeren Fenstern tauchten Zettel auf mit „zu vermieten“ - und Hamburger Telefonnummern. Denn die Investoren kamen oft von weiter weg und witterten in der beschaulichen KleinGroßstadt das große Geld. Nur: Oldenburg war nie Hamburg und wird es auch nie sein. Genauso, wie Neuruppin nie Berlin sein wird, nicht einmal Potsdam oder Brandenburg.


Meinen späteren Mann habe ich vor etwa 30 Jahren als Markthändler kennengelernt. Er und seine Eltern hatten einen Blumenstand – wenn Wochenmarkt war, auf dem Wochenmarkt und wenn kein Wochenmarkt war, vor Woolworth. Das, was an Meterpreis auf dem Markt zu bezahlen war, war überschaubar. Das, was bei Woolworth dafür bezahlt werden musste, um vor dem Schaufenster zu stehen, auch. Mein Mann war selbstständig – und seine Eltern auch, alles Blumenhändler, die sieben Tage in der Woche verdammt lange Arbeitszeiten, keinen Urlaub und kaum Freizeit hatten.


Dann hat Woolworth umgebaut und es war nicht mehr erwünscht, dass vor dem Laden Blumen verkauft werden. Schwiegereltern haben sich umgesehen und einen kleinen Laden in einer Seitenstraße gemietet, wo vorher Klamotten drin waren. 40 Quadratmeter in einem relativ neuem Bau, Seitenstraße – 2600 DM im Monat, eben einem Klamottenladen mit Namen "Salü".


Irgendwann kam an meinen Mann das Angebot, er könnte vor Horten den kleinen Laden übernehmen. Das waren 12 Quadratmeter, direkt an Horten angeschlossen, zur Straße hin und im hinteren, winzigen Lagerraum war dann der Schaltschrank für den ganzen Laden, der musste immer zugänglich bleiben. Mein Mann hat zugesagt – und ab da hatte er einen festen Laden. Ein paar Umbauten, damit vorne eine Tür reinkommt und nicht nur eine Durchreiche ist und taraaaa, fertig.


12 Quadratmeter ist nicht viel. Genau wie bei Schwiegeltern galt: mit günstigen Sträußen schon gar nicht. Und wenn man für 12 Quadratmeter und viele Einschränkungen dann 2000 (es war sogar noch mehr als zweitausend) DM blechen muss, ist das ein Batzen Geld, der erst einmal verdient werden muss. Also ohne dass man davon noch die Miete für eine eigenen Wohnung, etwas zu Essen, die Kosten für die Sozialversicherung oder eben auch die Blumen selbst bezahlt hat. Wenn man dann noch Familie hat und nicht ausfallen darf, wird es mitunter so eine Art Harakiri.


Dann kam der Umbau zu „Galeria Kaufhof“ und damit der Todesstoß für den Blumenladen und die Existenz. Es war eine harte, aber auch oft eine tolle Zeit in dem Laden, es gibt viele, viele tolle Annekdoten mit Stammkunden und manches Mal hat man sie und sie uns richtig ins Herz geschlossen. Unsere ersten beiden Kinder sind in ihren ersten Jahren damit groß geworden. Nach wie vor heißen die mittlerweile verstorbenen Schwiegereltern bei ihnen „Oma und Opa Blümchen“. Wobei es ob des Marktgeschäftes dann bei uns auch noch die "Klo-Oma" gab, Eine alte Dame, die Hüterin der öffentlichen Toilette war, dort ihr Zimmerchen zwischen Herren- und Damenklo hatte und wenn sie die nicht grade die Toiletten putzte, jeden Tag einen Eimer Krabben für die Pizzeria in der Nähe gepult hat. Klo-Oma roch unverkennbar streng nach Urinstein, besonders ihre Hände. Vermutlich waren ihr Handschuhe sowohl für das Toilettenputzen als auch für das Krabbenpulen ein Greuel. Aber sie war für uns halt "Klo-Oma" und als der Komplex mit dem Klo drin, stillgelegt wurde, fehlte etwas.

Meine Nichte hat bei einem angesehenen Floristen eine harte Ausbildung absolviert und sich später ebenfalls mit einem eigenen Laden in einem Vorort von Oldenburg selbstständig gemacht. Sie hatte sogar Auszubildende und ist in dem, was sie an Sträußen gezaubert hat, einfach unschlagbar gut gewesen. Ich glaube, sie hat rund 8 Jahre durchgehalten, gekämpft, alles versucht um den Laden und ihre Auszubildende zu halten – und geendet hat es mit einer Insolvenz. Wie so oft, wenn die Träume von einem eigenen Laden den Bach runtergehen aber man noch alles versucht, um irgendwie zu überleben. Ich selbst hatte mal mit einem Spielzeugverleih angefangen, alles für Kindergeburtstage. Ritterkiste, Piratenkiste, Besuchskiste für Enkelkinder und so weiter... dann wurde mein Sohn schwer krank und alles war vorbei.


Ich habe echt viel Respekt vor jedem Ladner und jedem Markthändler. Verdammt viel Respekt, weil ich weiß, dass viele Leute nur einen Bruchteil der ganzen Arbeit sehen und auch gerne viel fordern, was sie alles gerne doch hier kaufen würden – aber selbst nie im Leben das finanzielle Risiko tragen würden, einen Laden aufzumachen und ziemlich bedeppert schauen würden, wenn sie merken, dass es eben weit, weit mehr Arbeit ist als nur die Öffnungszeiten und dass sie selbst oft nicht mal umgerechnet den gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Aber ich bin total glücklich, dass mein Mann damals eine Stelle als Paketbote bei der Post bekommen hat. Unglaublich – nach 20 Jahren das erste Mal wirklich Urlaub haben. Ohne Angst zu haben, was das an Umsatzeinbruch nach sich zieht! Geregelte Arbeitszeiten haben, sich im die Kinder mit kümmern können – whow. Und das Beste: Die Sozialversicherung für die komplette Familie betrug nur noch ein Bruchteil von dem, was sie vorher gekostet hat.


Wie schon etwas weiter oben geschrieben: Neuruppin wird nie Berlin sein, nicht einmal Potsdam oder Brandenburg. Aber dennoch kommen Investoren, derzeit vor allem auf dem Wohnungsmarkt – und zum Glück – es sind überwiegend hiesige. Dennoch: Mit jeder Verbesserung steigen zwar die Preise – aber die meisten Menschen haben dadurch nicht mehr auch mehr Geld in der Tasche, dass sie ausgeben können, sondern müssen oft jeden Euro zweimal umdrehen. 


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